Europagefühl von Karin Manke

Ein Vers, eine Reise, ein Gefühl

Ein Gefühl zu beschreiben, schließt analytisches Denken aus.

Ich will es erkunden, mein Gefühl für EUROPA. Nein, genauer: ich will wissen,

wie fühlte sich das Wort EUROPA an, wie lässt es sich erklären, wie ins Bild

setzen, wie darstellen?

Gefühlte Gefühle sind Momente, die hat man nicht ständig und manchmal, wenn

man sie hat, versäumt man es , sie bewusst wahrzunehmen, bevor sie, an einem

vorbei geglitten sind.

Auch Gefühle sind manipulierbar.

!In der Schule lernten wir den Spruch: „Europa

Asien

Afrika,

Australien und

Amerika." Die Betonung lag auf dem „a". In diesem Rhythmus regelmäßig gesprochen prägten sich uns Kinder die Erdteile ein. Immerhin, Europa stand an erster Stelle, ich vermochte mich damit zu identifizieren. Das erste Wort, der erste Begriff, der erste Erdteil war der Meinige, dem konnte und durfte ich mich zuordnen.

Gab es da schon Gefühle? So etwas wie Stolz oder eine besondere Achtung diesem Teil der Erde gegenüber?

Wir sangen die Strophe wie ein Lied und hüpften dabei über den Asphalt. War das ein Gefühl? Ein in körperliche Bewegung umgesetztes Gefühl?

25 Jahre später traf mich das Gefühl für Europa in einem Teil von Europa auf

eine ganz andere Art.

Ich hatte mich eingerichtet und angepasst, mein Leben den Gegebenheiten zu

und in diese - eingeordnet. Ich war beschäftigt mit Familiengründung,

beruflicher Weiterbildung und Standortfindung, wurde genügsam und

erfinderisch, wenn es um Mangelerscheinungen ging, die in einem sozialistischen

System unabdingbar waren.

Freunde waren mir schon immer wichtig und so durfte ich den Literaten und

Schriftsteller Franz Fühmann einen solchen nennen. Seine Lesereisen führten

ihn nach Österreich, nach Westdeutschland, nach Polen, in die CSSR und nach

Ungarn. Von wo er kam, brachte er mir und meinen Kindern Bücher mit, die

meinen Lektüre-Bestand und-Schatz ganz wesentlich erweiterten, die sich ganz

anders anfühlten und fremdartig rochen.


Seine Begeisterung übertrug sich auf mich, sein offenes, tolerantes .jedoch nicht unkritisches Weltbild ebenfalls.

Die Neugierde war mir nie verloren gegangen auch nicht die stille und heimliche Sehnsucht über die engen, streng bewachten Grenzlinien hinweg. So entschlossen wir uns - mein Ehemann und ich - eine Reise nach Ungarn zu wagen. Ein Wagnis in direkten Sinne war es nicht, nur etwas komplizierter, als Reisen innerhalb von Ostdeutschland.

Grenzkontrollen, Leibesvisitationen, Durchsuchung des Reisegepäcks, strenge Blicke der Bewacher und Kontrollöre und Unsicherheiten und Ängste auf unserer Seite, erwarteten uns.

Dann fuhr unser „Polonia-Express" über eine die Donau überspannende Brücke. Wir zogen das Abteilfenster hinab und mir flössen Tränen übers Gesicht. Ein Gefühl brach aus, ich vermochte es nicht zu benennen. Vier Tage später erklommen wir in Budapest die ,, Fischerbastei". Es war ein milder Sommerabend. Ich trug ein hellblaues, modisches, weites und schulterfreies Hängekleid. Wir hielten uns bei den Händen, hatten, was hinter uns lag vergessen und was vor uns lag verdrängt. Wir waren aus unserer Welt ausgebrochen und in einer fremden, exotischen, freien Welt angekommen. Mit uns flanierten Menschen aus Europa und Asien - viele vermochten wir gar nicht zuzuordnen. Und als die Nacht hereinbrach blinkten uns die Lichter der Donaubrücken zu. Ein Unbekannter spielte auf seinem Akkordeon ein sehnsuchtsvolles, trauriges und schönes Lied. Da stand ich wieder und vermochte mein Gerührtsein nicht in Worte zufassen. Ich fühlte mich frei, ich fühlte mich angekommen und lebensfroh, wie nie vorher in meinem Leben.

Ein Stück meiner Seele tauchte in den Fluss und ich sah mich, mit dem Sog der Wellen, durch die Länder fließen, die alle von ihm berührt und belebt werden. Nie wieder fühlte ich so, nie wieder war mir EUROPA so nah, nie wieder erlebte ich meine eigenen Gefühle so intensiv, wie an diesem Sommertag 1980 in Budapest.

Fortan hörte die Sehnsucht und das Hoffen auf Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben nicht mehr auf.

08.08.2005



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