Antiautoritäres, Fluch der 68’er
In den siebziger Jahren saß ich in der S-Bahn einem netten jungen Mann gegenüber. Interessiert und konzentriert war er in seine Zeitung vertieft. Da stieg eine junge Mutti mit einem entzückenden Töchterchen ein. Das Kindlein wollte gern und unbedingt meinen Platz am Fenster einnehmen. Sie hatte mich nicht so richtig darum gebeten, aber ich selbst, eben Mutter geworden, machte dem Mädchen Platz. Von dort aus begann sie ihre Macht und Ränke aufzubauen. Sie setzte ihre Puppe demonstrativ neben mich und deutete mir an, diesem Püppchen doch mehr Platz zu machen. Als die Puppe gut platziert war, schweiften ihre hübschen Augen mit Interesse auf ihr Gegenüber dort hinter der Zeitung. Sie zupfte an der Zeitung, dann rupfte sie an seinem Hosenbein, dann lächelte sie den Mann hinter der Zeitung an und sagte ihm, „spiel jetzt mit mir“. Der nahm wieder die Zeitung und wollte weiter lesen, aber sie grabschte in die Zeitung und lachte ihn an und schrie laut. Der lachte erst einmal zurück. Und die Mama sagte: Pardon, mein Kind ist antiautoritär erzogen. Dann gab sie ihrer Mutter zu verstehen, sie wolle jetzt trinken und machte sich einen Spaß daraus, dem Zeitungsleser ihr Getränk anzubieten. Der lehnte dankend ab. Das hat ihr nicht gefallen, so kippte sie ihm den Rest auf die weiße Hose. Er säuberte sich, so gut es ging. Dann verlangte das Kind lauthals nach Schokolade. Die Mutter gab ihr eine ganze Tafel und sah zu, wie das Kind zu matschen anfing. Mit den verschmierten Fingern grabschte sie auf die weiße Hose des Mannes. Dem rutschte die verkehrte Hand kräftig aus und landete im Puppengesicht. Im Weggehen sagte er: Pardon, Madame, auch ich bin antiautoritär erzogen. Und er stieg aus.
(Margrit Pawloff, Berlin )