Isa Höhne- „Was denkt sich nur der Schlingel, wenn er mich täglich vor Augen hat“? So wurde ich doch tatsächlich neulich morgens begrüßt.

Der Schlingel, das bin ich, der Spiegel im Badezimmer.
Vor ein paar Jahren stand ich mit mehreren Vergrößerungsspiegeln in einem Fach im Warenhaus.
Von vielen Leuten wurde ich zur Hand genommen, denn ich sah sehr stattlich aus und hob mich dadurch von der Masse der Anderen ab. Meine Vergrößerung war die stärkste, mein Durchmesser 20 cm. Ich habe einen silbernen Rand, hing in einem stabilen, sehr edlen Gestell mit einem Sockel und war standfest und auch beweglich. Auf meinem Rücken trug ich meinen Bruder, der allerdings war nichts Besonderes, eben ein einfacher Spiegel nur.
Eines Tages kam eine ältere Dame. Ich sah sie schon von weitem eine Verkäuferin ansprechen und diese zeigte ihr sehr freundlich das Fach, in dem wir standen.
Erst beriet sie sich noch mit der Verkäuferin, dann prüfte sie mich allein und auch meine Kumpel. Zufrieden war sie wohl nicht. Immer wieder drehte und wendete sie die Spiegel hin und her, hielt sie dicht an das Gesicht und weiter entfernt, ging mit einigen zum stärkeren Licht, setzte ihre Brille ab und sah hinein. Sie war so unschlüssig und stellte die meisten von uns schnell wieder zurück.
Nur ich wurde von ihr immer wieder zur Hand genommen, mir gefiel das und ich versuchte ihr zu signalisieren, dass nur ich derjenige bin, der in Frage kommt. Jeden Lichtreflex ließ ich in ihre Augen zucken, doch sie verstand wohl diese Zeichen nicht.
Jedenfalls stellte sie mich zurück, sie kaufte keinen Spiegel. Meine Enttäuschung war groß, denn ich wollte doch endlich aus diesem blöden Warenhaus weg und mal so richtig zeigen, was in mir steckt.
Wie groß war meine Freude, als sie nach einer Stunde wieder da war, mich aus dem Regal nahm, noch einmal nach dem Preisschild auf dem Sockel sah und mich entschlossen zur Kasse trug.
Sie kaufte mich, aber die Verkäuferin musste sich noch die Klage über den hohen Preis anhören. Der war es, der sie vom Kauf abhielt und erst im zweiten Anlauf nach gründlichem Nachdenken, hatte sie ihn wohl akzeptiert.
Zu Hause angekommen wurde ich aus dem Seidenpapier gewickelt und auf den Spiegelschrank im Badezimmer gestellt.
Da hatte ich zwar den Überblick über alle Geschehnisse dort, doch mein Nutzen für sie war gleich null, ich stand zu hoch und sie konnte sich nicht in mir erkennen. Sie versuchte mich aus dem Gestell zu lösen, um mich vielleicht am Spiegelschrank befestigen zu können.
Kein leichtes Unterfangen, denn ich war gut, fast für die Ewigkeit verschraubt. Sie packte mich wieder ein und fuhr zu ihrem Bruder. Handwerklich geschickt gelang es ihm tatsächlich mich aus dem Stativ zu lösen. Mit dem Bügel blieb ich beweglich und noch ein Schmuckstück, so empfand ich mich jedenfalls.
Ein Band am Bügel befestigt, einen Haken auf den Schrank geklebt, mich angehängt und so bin ich stets im Einsatz.
Wie ist das schön, wenn morgens das Licht angeht und Frau Isa, so nenne ich sie insgeheim, im Bad erscheint. Leicht zerzaust die Haare und blinzelnd der erste Blick zu mir.
Zeigt die Nacht Auswirkungen? Nein, gut geschlafen, keine Augenringe, keine Schwellungen, alles im grünen Bereich. Das ist meistens so, und entspricht dieser Eindruck mal nicht den Tatsachen, dann ist es an mir, durch Veränderung meines Fokus ein unklares Bild zu erzeugen. So sehe ich mit Freude, wie sie ihre Morgentoilette beendet, wie sie sich im Spiegel anlächelt, um dann gut gelaunt zum Frühstück zu gehen. Mir macht es eben Spaß fröhliche Leute um mich zu haben, da ist doch wohl eine kleine Mogelei erlaubt!
Später dann der nächste, weitaus kritischere Blick! „Die Augenbrauen wuchern“, sagt sie leise.
-Kann ich nicht finden, sehe sie eher als spärlich an.
-Da muss ich zupfen, meint sie.
„ Und wie sieht denn meine Frisur aus“! Sie kämmt, toupiert und versucht mit Haarlack eine Frisur ihrer Vorstellung hinzubekommen, doch ich sehe ihre Enttäuschung. Würden ungeordnete Fusselfrisuren der Mode entsprechen, sie würde im Trend liegen!
Dann fällt ihr Blick auf das Kinn. Hier eine Borste und da eine Borste, sie ist entsetzt, „das hatte ich doch früher nicht“, entfährt es ihr.
Mich macht das traurig, warum habe ich auch nur so eine starke Vergrößerung, viel lieber würde ich ihren Augen ein makelloses altes Gesicht zeigen. Doch das wäre sicher nicht in ihrem Sinn, schließlich hat sie sich ja was dabei gedacht, als sie einen Vergrößerungsspiegel anschaffte.
Nun muss ich mit ansehen, wie sie sich Schmerzen zufügt, denn das muss weh tun, sie verzieht das Gesicht, stöhnt auch leise vor sich hin und flucht auch mal, wenn sie mit der Pinzette nicht nur das zu entfernende Barthaar, bzw. die Haare der Augenbraue festhält, nein auch gleich noch die Haut mit greift.
Ich leide mit ihr und bemerke, dass mein Glas beschlägt, wahrscheinlich, weil ich mich der Tränen nicht erwehren kann.
Sie greift nach dem Handtuch, wischt vorsichtig über mich und weiter geht die Prozedur.
Eines Abends geht das Licht im Badezimmer an und es kommt, nicht wie von mir erwartet, Frau Isa zu mir ins Blickfeld, nein, eine hübsche junge Frau. Sie schaut in mich und fährt mit einem kleinen Schrei zurück. Beruhigt sich aber schnell wieder und ich höre wie sie vor der Tür sagt: „ Mutti, wie kannst Du mich nur so erschrecken! Diese Vergrößerung ist ja beängstigend. Ich habe den Spiegel abgenommen und ihn auf den Schrank gelegt“!
Mich stimmte diese Verfahrensweise traurig. Auf dem Schrank zu liegen, das hatte ich mir nicht erträumt. Ich wollte ständig am Geschehen beteiligt sein und nicht selten zur Hand genommen werden, da wäre es im Warenhaus doch interessanter gewesen, dachte ich.
Lange konnte ich meiner trüben Stimmung nicht nachhängen. Frau Isa nahm mich herab, hängte mich wieder ein und warf den schon bekannten kritischen Blick auf mich. Sie war mit ihrem Konterfei zufrieden. Meine Freudentränen ließen das Glas beschlagen, doch das merkte sie nicht, zu schnell ging sie wieder hinaus.
„Ich bin an den Spiegel gewöhnt und möchte ihn ständig so in seiner Position halten“, sagte sie zu ihrer Tochter Anja.
Von da an lag ich kurzzeitig auf dem Schrank und wenn Anja fertig war, dann hängte sie mich wieder ein.
Anja war schon oft zu Besuch und hat sich in der Zwischenzeit an meine fast lupenhafte Vergrößerung gewöhnt, benutzt mich gerne, wenn ihre Augenbrauen gezupft werden oder sie störende Pickel beseitigen will. Pickel, die in meinen Augen kaum der Rede wert sind, da habe ich im Warenhaus damals andere, richtige Prachtexemplare gesehen.
Mein Leben als Vergrößerungsspiegel ist aufregend, ich fühle mich durch meine Wichtigkeit unabkömmlich und Frau Isa zeigt mir ihre Liebe, indem sie mich poliert und darauf achtet, dass keine Wassertropfen auf mir sitzen bleiben.

Unseren ständigen Blickkontakt möchte ich nicht missen. Und so ist es selbstverständlich, dass ich auf jeder Reise Frau Isa begleite. Weit aus schwieriger ist es dann allerdings, einen Platz für mich zu finden, wo die Höhe stimmt und die Lichtverhältnisse ausreichen.
Wieder zu Hause steht ein Mammutprogramm für uns beide an, denn es zeigt sich, dass die Lichtverhältnisse doch nicht so gut waren.

--->Die Schreibwerkstatt

 
 

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